8. August 2016. Allein am 4. August 2016 passierten ca. 100´000 Touristen den internationalen Flughafen von Rio und brachten noch mehr Aufregung und Bewegung in die Stadt. Für Neuankömmlinge ist es schwer, sich des Gefühls zu erwehren, dass jeden Moment eine multikulturelle, internationale Party beginnen könnte. Die Stadt, die normalerweise von rund 1,5 Millionen Touristen jährlich über den Flughafen besucht wird, wurde für die Olympischen Spiele zu weiten Teilen umgestaltet. Viele sehen das als interessante Chance, eine Stadt, ein Land und eine Kultur der gesamten Welt zu präsentieren.
Um diese Chance zu nutzen, wurde kurz nach der Nominierung der Stadt im Jahr 2009 mit den Bauarbeiten begonnen. Seitdem hat sich die Struktur von Rio grundlegend verändert. Der Umbau der Stadt umfasst die Errichtung eines neuen Stadtteils für die Unterbringung der Sportler und der meisten Austragungsstätten der Spiele, aber auch Verbesserungen am öffentlichen Verkehrsnetz, den Bau neuer Kläranlagen, die Erweiterung der Wasserversorgung und des Abwassernetzes sowie die Wiederbelebung des Stadtkerns. Diese Veränderungen werden oft als die olympische Hinterlassenschaft dargestellt. Oftmals geht es dabei aber nicht nur um Infrastruktur für die Spiele und die Touristen, die Veränderungen bieten vielmehr auch die Chance, die Dienstleistungen der Stadt und den Zugang für die Bewohner zu verbessern.
Urbanisierung und Verkehr
Die ersten Erfahrungen der lokalen Bevölkerung mit den Olympischen Spielen war oft eher unangenehmer Art. Schon viele Monate vor Beginn der Spiele hat sich das Leben der Einwohner von Rio, der «Cariocas», aufgrund des Umbaus von Grund auf verändert, und es waren einschneidende Veränderungen zu erwarten, insbesondere bei der Urbanisierung und im Verkehrswesen der Region.
Der 1,18 Millionen Quadratmeter grosse Olympiapark, in dem die meisten der Wettbewerbe stattfinden werden und der speziell für die Spiele errichtet wurde, befindet sich in Barra da Tijuca, einem Vorort der oberen Mittelschicht. Im Zuge der Bauarbeiten wurden sämtliche Bewohner der Vila Autódromo, einer informellen Siedlung, vertrieben. Es folgten monatelange Proteste.
Eine 33-jährige Designerin und ihre Freundin, eine Pharmazeutin, sagen, der Umbau der Stadt für die Olympischen Spiele (und auch schon davor, für den FIFA World Cup 2014) habe die gesamte Region in einen Flickenteppich aus nicht enden wollenden Baustellen verwandelt. Als Folge davon befindet sich die Infrastruktur der Stadt an der Grenze ihrer Belastbarkeit: kilometerlange Staus sind zum Beispiel keine Seltenheit.
Regina, eine 60-jährige Hausfrau, hingegen sagt, dass Fortschritt immer einen Preis habe. Daher wartet sie geduldig darauf, dass die Politiker und Planer ihre seit der Nominierung der Olympiastadt gemachten Versprechen einhalten: bessere öffentliche Dienstleistungen für alle 6,5 Millionen Einwohner. Jetzt sei die Zeit gekommen, die Einlösung dieser Versprechen einzufordern, sagt sie. Sie mache sich jedoch Sorgen über die Qualität und die Nachhaltigkeit der öffentlichen Projekte.
Infrastrukturelle Verbesserungen für die Spiele
Neben Barra da Tijuca finden einige Wettbewerbe auch in anderen Teilen der Stadt statt. Diese Stadtteile sind inzwischen alle über ein integriertes öffentliches Verkehrssystem, das BRTs (Busse auf eigenen Spuren), Strassenbahnen (im Zentrum), die U-Bahn und erneuerte Züge umfasst, angebunden. Zudem wurden einige neue Strassen errichtet und bestehende Strassen vergrössert. Damit während der Spiele ein reibungsloser Ablauf gewährleistet werden kann, steht allen Teilnehmern, Funktionären und Helfern der Spiele (genannt die «olympische Familie») eine eigene Fahrspur zur Verfügung, um zu den unterschiedlichen Austragungsorten zu gelangen. Diese Spur wurde auf den bestehenden Strassen eingerichtet und mittels einer durchgehenden grünen Linie markiert.
Interessanterweise war der schlechte Zustand des öffentlichen Verkehrsnetzes einer der Hauptgründe dafür, dass eine frühere Bewerbung der Stadt als Austragungsort für die Olympischen Spiele abgelehnt wurde. Daher war ihr Ausbau für das Olympische Komitee vorrangig. Diesmal wurden ambitionierte Pläne mit einem straffen Zeitplan geschmiedet, die gerade rechtzeitig umgesetzt werden konnten. Die neue U-Bahn-Linie, die die Zona Sul mit Barra da Tijuca verbindet, wurde für die ausschliessliche Nutzung durch die olympische Familie eröffnet, wird aber schon bald der Öffentlichkeit übergeben.
Das BRT ist ein Bussystem auf Express-Fahrspuren (TransOeste, TransOlimpica und TransCarioca). 2017 soll noch eine weitere BRT-Spur eröffnet werden: die TransBrasil. Diese speziellen Fahrspuren umfahren Staus und können die Fahrzeit erheblich verkürzen. Immer mehr Menschen nutzen BRT – momentan sind es 43‘000 Fahrgäste täglich, was bereits einer Überschreitung der Kapazitäten entspricht. «Wir fühlen uns wie die Ölsardinen», sagt Paulo Augusto, ein Bankangestellter, der BRT täglich nutzt.
Wiederbelebung des Stadtzentrums
Der gesamte Hafen von Rio in der Nähe des Stadtzentrums wurde revitalisiert, einschliesslich der öffentlichen Plätze. Dabei wurden neue Museen errichtet und Fussgängerzonen geschaffen und über Strassenbahnen an die Flughäfen angebunden. Der Stadtteil, inzwischen bekannt unter dem Namen «Porto Maravilha» (Hafen der Wunder), ist mittlerweile voll von Touristen und Einheimischen, die Sport betreiben, das «Museum of Tomorrow» und das Rio Art Museum auf der anderen Strassenseite besuchen.
Der Stadtteil war für die Durchführung der Olympischen Spiele nicht unbedingt notwendig, und viele Menschen stellen das Timing einer Unternehmung dieser Grössenordnung und mit derartigen Kosten in Frage, insbesondere in Anbetracht der ambitionierten, notwendigen und teuren Stadterneuerung. Experten stellen auch die Möglichkeit in Frage, den Stadtteil mit der beabsichtigen Schaffung von 100‘000 Wohneinheiten, die das Zentrum «besetzen» sollen, aufzuwerten; aufgrund der vielen Büros gilt dieser Bereich als kaum bewohnt. Unternehmen, die mit der Revitalisierung des Zentrums beauftragt wurden, erhielten das Recht, in Zukunft Immobilienprojekte zu erschliessen. Durch die städtebaulichen Veränderungen und die Aufwertung des Areals scheint es wahrscheinlich, dass trotz der Zusicherungen zur Umsetzung von sozialen Wohnungsbauprogrammen ca. 30‘000 der gegenwärtigen Anrainer langsam verdrängt werden.
An einem Sonntagnachmittag, eine Woche vor Beginn der Spiele, sind die meisten Restaurants entlang des Küstenstreifens und im Stadtzentrum bereits voll mit Gästen besetzt. Der Besitzer eines Restaurants erzählt, dass er für die Sommermonate 40 zusätzliche temporäre Mitarbeiter einstellen musste.
Laut des Präsidenten von Embratur (dem brasilianischen Institut für Tourismus), Vinícius Lummertz, machen die seit 2007 in Brasilien stattfindenden internationalen Veranstaltungen (Panamerikanische Spiele, Rio +20, Confederation Cup, World Cup und die Olympischen Spiele) das Land bekannter und für den internationalen Tourismussektor interessanter (Rio 2016, Governo Federal). Dieses Jahr werden zwischen 300‘000 und 500‘000 Touristen zu den Veranstaltungen in der Stadt erwartet.